Auszüge aus dem Buch:
Mit freundlicher Genehmigung von Frau Ruth Machel geb. Wiese. Ihr gilt unser Besonderer Dank für diese Aufzeichnungen.
Worüber schreibe ich zu erst ?
Die Gedanken sind in der Vergangenheit, - alles schwirrt durcheinander.
Ich muss die Gedanken zeitlich einordnen. Vieles weiß ich nicht mehr aus eigenem Gedächtnis,
sondern meine Mutti hat es mir erzählt. ..............
Zuerst möchte ich etwas über meine Heimat NEUSTETTIN berichten:
Neustettin liegt direkt am Streitzigsee in Hinterpommern, nahe am Vilmsee und somit mitten in der Pommerschen Seenplatte. Als Kreisstadt (139 m ü.M.) erhielt sie 1310 "Lübisches Recht".
Als Garnisonsstadt mit zwei Kasernen (Infanterie & Kavallerie ) zählte Neustettin ca. 25000 Einwohner.
Wir wohnten in der YORKSTRASSE 11 am Stadtrand in unserem Einfamilienhaus mit Stall, Hof und Garten. Wir hatten auch Hühner und Kaninchen. Das gesamte Anwesen hatte eine Größe von 986 qm.
Wir (meine Eltern, meine Brüder Horst und Dieter und ich) wohnten unten und mein Opa (an den ich leider keine Erinnerung mehr habe, da er schon im September 1944 verstarb), sowie meine Oma Wiese oben.
Bei schönem Wetter ging Mutti mit uns sehr oft zum See, und wir konnten im Wasser planschen oder im Sand spielen.
Mein Vati arbeitete in Stettin und kam nur am Wochenende zu uns. ..............
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Die Front rückt näher
Ich erinnere mich noch" es war Anfang Januar 1945.
Meine Mutti war im Wald "Holz machen". Es kam der Befehl, dass wir packen und unsere Heimat verlassen sollten.
Oma schickte mich los, um Mutti Bescheid zu sagen. Obwohl ich nicht wusste, wo sie im Wald war, hatte ich Glück und fand sie. Wir, meine Mutti, Oma, Horst, Dieter und ich waren dann einige Zeit bei Tante Lene in der "BRAUERSTRAßE". Allerdings war diese Straße in der Stadtmitte, und so gingen wir wenig später wieder zurück in die Yorkstraße, um im Ernstfall schneller aus der Stadt rauszukommen. ...........
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Die meisten aus der Stadt und auch aus der Yorkstraße waren schon weg und auch die Parteimitglieder hatten Neustettin schon verlassen.
In der letzten Nacht vor unserer Flucht hatte uns Tante Frieda, geb. Louis (Onkel Alfreds Frau / Alfred = Vatis Bruder) aufgesucht, um uns zu warnen. Wir sollten schnell weg, denn die russische Front kam immer näher. Und von den Russen mit Panzern überrollt werden, oder ihnen "zu willen" sein, wollte sicherlich keiner.
Vom Bahnhof sollte in dieser Nacht der letzte Zug fahren, wo die Frauen mit ihren Kindern mit sollten. Jetzt gab es keine Wahl mehr - Wir mussten unsere Heimat verlassen! Damals hieß es allerdings: - NUR AUS DER SCHUSSLINIE! WIR KÄMEN BALD ZURÜCK.
Während es in Neustettin vorher keine Fliegerangriffe gab, fielen in der letzten Nacht vor unserer Flucht die ersten Bomben. ...........
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Zu Fuß nach BÄRWALDE
Es war Dienstag, der 27. Februar 1945, morgens 8°° Uhr, als wir (Mutti, Oma Wiese, Horst, Dieter und ich) uns zusammen mit Tante Lene, Hannelore und Oma Klabunde auf den Weg machten. Wir mit dem gepackten Handwagen und Mutti sowie Tante Lene je mit einem großen Rucksack auf dem Rücken. Die Rucksäcke waren so schwer, dass zwei Soldaten Mühe hatten, sie hochzuheben. Unser Weg ging bei schönem warmem Winterwetter nach Westen Richtung Bärwalde. 24 km zu Fuß. Erst später erfuhren wir, dass bereits der Bahnhof am anderen Ende Neustettins zu dieser Zeit schon von den Russen besetzt war.
Während wir noch durch die Yorkstraße gingen, stand dort ein alter Mann am Gartenzaun und schaute uns traurig nach. Er blieb alleine im Haus (Wilms) zurück. - Eine andere Frau ging mit ihrer Tochter ins Unbekannte. Sie hatte den kranken Ehemann zu Hause lassen müssen.
Mit uns gingen auch die Soldaten, die eigentlich die Stellung in Hammerstein (18 km östlich von Neustettin) halten sollten. Während der Flucht waren über uns immer wieder Flugzeuge, welche die Flüchtlinge mit Bordwaffen beschossen. Jedes Mal, wenn die Flugzeuge näher kamen, suchten wir Schutz im Straßengraben. Der Handwagen und das Gepäck blieben auf der Strasse stehen. Oft lagen auch verendete Tiere oder tote Menschen am Straßenrand, die wegen des Frostes im Boden nicht beerdigt werden konnten. ..........
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In Stralsund
Am Donnerstag, den 01.03.1945 erreichte der Zug Stralsund. Dort kamen wir in einem Mädchenheim in einem größeren Raum / Saal unter und blieben eine Nacht. Da Oma Wiese wegen der Blutergüsse vor Schmerzen nicht liegen konnte, bekam sie einen Stuhl. Sie war dann im Sitzen eingeschlafen und vom Stuhl auf uns Kinder gefallen. Am nächsten Vormittag wurden wir bei Familien untergebracht. Dabei wurde nach Personenzahl verteilt. ..........
Die Fahrt nach Dänemark
Jetzt durften auch schon Stralsunder mit. Es waren mehrere Personen- und Frachtschiffe mit Flüchtlingen, die im Geleitzug den Hafen Stralsund verließen.
Unser Schiff, ein Frachtschiff, hieß HOMBERG.
Ich erinnere mich noch, dass es einmal auch auf dem Schiff große Erschütterungen gab. Wir erfuhren später, dass eines der Schiffe auf Minen gelaufen war.
Wir waren ganz unten im Frachtraum des Schiffes. Von dort gab es noch nicht einmal eine Treppe nach oben, sondern nur eine Strickleiter. Es war sehr voll. Flüchtling an Flüchtling. ..........
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In BRENDERUP
Von Nyburg ging es dann mit dem Zug nach Brenderup. Auf dieser Strecke musste der Zug einmal anhalten, da Schwellen quer über die Schienen gelegt waren. Zum Glück war nichts passiert.
In Brenderup kamen wir am Mittwoch, dem 02.05.45 in einer Privatschule unter, die dicht am Bahnhof auf einer Anhöhe stand. Es waren etwa 155 Flüchtlinge, wovon die meisten in die große Turnhalle kamen. Einige Wenige wurden in Klassenräumen untergebracht. ..........
..........Mein Bruder Dieter war so schwer krank, dass er am 03.06.1945 um 12°° Uhr starb.
Die Beerdigung machte ein dänischer Pastor, wobei der Sarg usw. auch von den Dänen bezahlt wurde. ..........
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Das Lager SKOVBY
In diesem Lager waren 1100 Personen, die in 20 Baracken untergebracht waren. Und es wurden noch weitere Baracken gebaut. Alles war hier öd und leer - es gab keinen einzigen Baum, keinen Strauch. Der Stacheldraht aber war das schlimmste. Wir waren eingesperrt wie Verbrecher. Obwohl wir in diesem Lager eine lange Zeit blieben (11.12.45 - 06.02.47) habe ich nur wenig Erinnerungen. Müsste ich ein Bild davon malen, so wäre es draußen nur dunkel und grau. ..........
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Das Lager Oksböl
Am 06.02.1947 (ich wurde 10 Jahre alt) kamen wir mit der Bahn in ein großes Lager hinter doppeltem Stacheldraht.
Es war das Lager Oksböl mit ca. 30.000 Flüchtlingen.
Während des Krieges waren hier deutsche Soldaten stationiert und in Mannschaftsbaracken mit Pferdeställen untergebracht.
Da immer mehr Flüchtlinge kamen und die 120 Baracken nicht ausreichten, wurden die Menschen auch in den 70 Pferdeställen untergebracht. Wir kamen in den Pferdestall Z4.
Hier mussten wir uns von Tante Lene mit Hannelore und Oma Klabunde, sowie von Familie Litzow trennen, da nicht für alle zusammen Platz war.
Dieser Pferdestall ist mir noch sehr bildhaft in Erinnerung. Er war etwa 30 Meter lang und unterteilt in 3 Räume, abgetrennt durch Holzwände mit einer Tür in der Mitte. Ganz oben war eine reihe niedriger Fenster, durch die etwas Tageslicht drang. Aber es kam nicht bis nach unten zu uns.
In diesem Stall waren etwa 120 Personen, vorwiegend Frauen und Kinder. Durch den Stall führte in der Mitte ein Gang und zu beiden Seiten standen 2 lange Reihen zwei- und dreistöckiger Betten. Zwischen den Bettreihen war nur wenig Platz. Die Betten waren sehr schmal und dicht übereinander, so dass man nicht darauf sitzen konnte. Zum Schlafen musste man sich auf die Kante setzen und reinrollen.
Aber zum Schlafen kamen wir eh nicht, denn in den Ritzen waren Wanzen, die auf Opfer lauerten. Und hatten wir eine Wanze erwischt und zwischen den Fingern zerdrückt, dann stanken die Finger. ..........
.......... Während Mutti bei der Verwaltung war, hatte Horst inzwischen vor unserem Zimmerfenster geharkt. Eigenartigerweise hatte er ein Kreuz geharkt. Es ist schon seltsam. Jetzt beim Schreiben dieser Zeilen wird mir erst richtig bewusst, was diese Nachricht für meine Mutti bedeutete. Fern der Heimat in einem fremden Land, hinter Stacheldraht und unter dürftigen Verhältnissen. Ein Kind von 2 Jahren bereits sterben sehen müssen., das Grab nicht besuchen dürfen und nun auch noch den geliebten Mann zu verlieren und trotzdem für ihre beiden Kinder Ruth und Horst, sowie die Schwiegermutter da sein zu müssen. ..........
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Zurück nach Deutschland
Am Sonntag, den 28.11.1948 konnten endlich auch wir nach Deutschland zurück. Die Lager wurden allmählich aufgelöst und wir mussten uns im Lager Oksböl beim Kino versammeln.
Um 19°° Uhr ging es zum Bahnhof zur Abfahrt. Um 21.30 Uhr fuhr dann der Zug etwas weiter und wir standen 6 Stunden auf freier Strecke. Am Montag, den 29.11.48 gegen 9°° Uhr kamen wir im Durchgangslager Kolding an. Um nach Deutschland zu kommen, benötigten wir einen Ausweis, der dann in Kolding ausgestellt wurde.
Am Mittwoch, dem 01.12.48 kamen wir schließlich nach Deutschland. Wir mussten dann vom Freitag, den 03.12. bis Donnerstag, den 16.12.48 im Lager Uelzen Bohldamm bleiben.
Diese Tage sind mir in schrecklicher Erinnerung. ..........
.......... Als dann Horst 1956 nach Witten / Ruhr ging, ich 1959 heiratete (ich hatte meinen Mann Werner Machel bei einem Tanzvergnügen kennen gelernt) und meine Oma 1960 starb, zog Mutti 1968 von Schäpingen in eine freigewordene Wohnung nach Schnega. Dort verstarb sie im Oktober 1992 im Alter von 80 Jahren.
Auch Horst, der 1968 wieder nach Schnega kam, starb im Juni 2001. So sind sie alle fern der Heimat bestattet.
Mein Bruder Dieter in Dänemark.
Mein Vati in Russland am linken Ufer des Dnjepr
Meine Oma Klabunde in Schleswig-Holstein
Tante Lene in Schleswig-Holstein
Meine Oma Wiese in Schäpingen
Meine Mutti in Schnega
Mein Bruder Horst in Schnega ..........